Kinder
und Narren durchschlagen den Gordischen Knoten, den der Poet sein
Leben lang geduldig zu lösen versucht.
Jean Cocteau
Ich wollte über das Leiden der
Menschheit im Allgemeinen sprechen, aber vielleicht sollten wir uns
besser auf die Leiden der Kinder beschränken.
Fyodor Dostoyevsky
Die Brüder Karamasow
Ein
göttlich Wesen ist das Kind, solang es nicht in die Chamäleonsfarbe
der Menschen getaucht ist. Es ist ganz, was es ist, und darum ist
es so schön. Der Zwang des Gesetzes und des Schicksals betastet
es nicht; im Kind ist Freiheit allein. In ihm ist Frieden; es ist
noch mit sich selber nicht zerfallen
Friedrich Hölderlin
Der Genius der Kunst sucht
Zuflucht bei Kindern und Verrückten,
um zu überleben. Das ist es was wir sind.
Marilyn Manson
über seine Zusammenarbeit mit Gottfried
Helnwein
Picasso
hat gesagt: "Als Kind ist jeder ein Künstler.
Die Schwierigkeit liegt darin, als Erwachsener einer zu bleiben."
Das ist deshalb so schwer, weil die meisten Erziehungssysteme wie
Mähdrescher funktionieren: vorne kommen die lieben Kinder hinein,
und hinten kommen sie fein geschrotet und gemahlen wieder heraus.
Und so werden Erwachsene erzeugt: durch die Zerstörung des Kind-seins,
des Spielens und Träumens, der Kreativität und jeder Spontanität.
Aber das ist wahrscheinlich unvermeidlich, wenn man sich ordentliche
Staatsbürger wünscht, wie Soldaten, Steurfahnder, Zuhälter,
Psychiater, Geheimagenten Rennfahrer, Banker, Politiker, usw..
Gottfried Helnwein
Interview mit Herbert Schorn
Oberösterreichische Rundschau, 2006
Ich bin kurz
nach dem Krieg geboren und habe noch den Atem des Todes gespürt.
Obwohl bis in die 70er Jahre niemand über die
Vergangenheit geredet hat, wusste ich von Kindheit an, dass da etwas
war. Ich war wahrscheinlich ein äusserst nervendes Kind, denn
ich habe ständig gebohrt und gefragt und nach und nach habe
ich alles zusammen-getragen, was ich über den Holocaust erfahren
konnte, ich wollte jedes Detail darüber wissen.
Irgendwann bin ich mit meinen Recherchen in der Gegenwart gelandet
und habe diese Polizeifotos von Kindern gesehen, oder was von ihnen übrig
geblieben ist, nachdem sie von den Eltern zu Tode gefoltert wurden.
Kein Anblick der Sie gut schlafen lässt. Das war der Moment,
als ich beschlossen habe Künstler zu werden. Es schien mir der
einzige Weg, mich diesem Thema zu nähern. Ich bin aus humanistischen
Motiven Künstler geworden, nicht aus ästhetischen.
Gottfried Helnwein
im Gespräch mit Marc Fischer und Sven
Michaelsen
Vanity Fair, 2008
Reife des Mannes: Das heißt, den Ernst wiedergefunden zu haben, den man als Kind hatte, beim Spiel.
Friedrich Wilhelm Nietzsche
Der Künstler, der sein ganzes Leben in vielem dem Kinde gleicht, kann oft leichter als ein anderer zu dem inneren Klang der Dinge gelangen.
Kandinsky
Das Wort Fortschritt bedeutet nichts, solange es noch unglückliche Kinder gibt.
Einstein
Die bürgerliche Gesellschaft, der Moloch, der seine eigene Kindheit frisst und auch mich im Begriff ist zu fressen...
Fritz Zorn
Ich habe nie andere Gefühle als Bewunderung, Liebe und Respekt für meine Kinder empfunden. Für mich sind Kinder ein grosses Wunder, sie tragen mit ihrer Reinheit und Entrücktheit die Möglichkeit zu einem besseren Menschsein in sich. Es ist nur wichtig, Sie vor den Erziehungs- und Indoktrinierungsmethoden der korrupten Erwachsenenwelt zu schützen.
Gottfried Helnwein
Interview "Ich kann mich in kein System einfügen", Sven Michaelsen, Süddeutsche Zeitung Magazin, 14. November 2013
Gleichzeitig mit den ab 1969 gemalten
Bildnissen verletzter und mißhandelter Kinder wird um 1971/72
das bandagierte Kind als die neben dem Künstler wichtigste und
mit ihm verbündete Märtyrerfigur in der Aktion dargestellt.
Es verkörpert den unschuldigen, wehrlosen, der Gewalt ausgelieferten,
geopferten Menschen. Als unschuldigem "Lichtkind", dessen
Verletzungen an Kopf und Händen Lichtstrahlen wie selbstleuchtende
Stigmen aussenden, wird ihm die gleiche Heroisierung zur Dulder-
und Erlöserfigur wie dem Künstler zuteil. Das Gruppenbildnis
mit Kindern wird Helnwein, wie auch seine zahlreichen Aktionen mit
Kindern in der Öffentlichkeit zeigen, künftig nicht mehr
loslassen. Sein Eintreten für die Rechte des Kindes grenzt sich
ab von jeder Kindertümelei, die in einer gesellschaftlich ausgegrenzten "Kinderkultur",
den kommerzialisierten "Kindermedien", im Kind als pädagogischem
Objekt und in der ideologischen Verklärung der eigenen Kindheit
durch die Erwachsenen ihren Ausdruck findet.
Abgrenzbar ist Helnwein vom Wiener Aktionismus, wenn er den Körper
des Kindes nicht zum ästhetischen Material (wie in den "Materialaktionen" von
Günter Brus, Hermann Nitsch und Otto Muehl) nivelliert, sondern
ihm eine symbolische Stellvertreterfunktion für den wehrlosen,
geopferten Menschen verleiht. Dem sexualistischen Verständnis
des Kindes im (Freud rezipierenden) "Wiener Aktionismus" setzt
der Moralist und Weltverbesserer Helnwein die geschlechtslose Heilsgestalt
des Kindes entgegen.
Peter Gorsen
anlässlich der Ausstellung "Der
Untermensch, - die Selbstbilnisse von Gottfried Helnwein"
Musée d’Art Moderne, Strasbourg, 1986
Wir wenden aber immer wieder den Blick
ab von seinen Kindern. dabei sind sie die verstörendsten Bilder
des Malers Gottfried Helnwein: von den in süssen Farben gepinselten
Aquarelle der frühen
70er Jahre, die meist geschändete, brutalisierte Mädchen
zeigen - bis hin zu den überlebensgrossen, fotorealistischen
Installationen der letzten Jahre, in denen er einer erstarrten Erwachsenenwelt
den Spiegel ihrer verschütteten Kindheit vorhält. Bei Helnwein
werden Wunden zu Waffen. Von Anbeginn an sind die Bilder des in Wien
geprägten, und heute in Amerika arbeitenden Malers von Protesten
und Skandalen begleitet gewesen, was Helnwein nicht überrascht,
doch: " Es ist nicht mein Bild, vor dem sich die Leute fürchten,
sondern ihre eigenen Bilder in ihren Köpfen."
Alice Schwarzer
Wieder und immer wieder hat er Kinder gemalt, in Situationen von
Butalität und Gewalt. Er hat christliche Ikonografie benützt,
Nazioffiziere und randalierende Soldaten Bildern kindlicher Unschuld
gegenübergestellt. Impulsive Reaktionen waren die Folge: auf
eine installation in Köln wurde von Neonazis ein Anschlag verübt.
Und doch sagt er, es sei ihm nicht darum zu schockieren, "Schock
ist ein sinnloser Effekt", sagt er. "Jemanden zu schockieren
ist völlig sinnlos, ich will jemanden dazu bringen nachzudenken."
The Sunday Times
Gerry McCarthy
"Boodied but unbowed"
14. September 2008
Neben Skizzen von
Ballet tanzenden Hasen und gestiefelten Katzen, strangulierten und
gestopften Enten finden sich Studien oder eher Wunschzeichnungen
zu malträtierten
Kinderköpfen, deren Münder durch Spangen und rosige Narben
grauenhaft entstellt sind, aber gleichzeitig durch ihre höhnischen,
Fratzen schneidenden Grimassen Ungehorsam, Widerstand, Aufruhr,
so etwas wie kindliche Autonomie in der depravierten Erwachsenenwelt
signalisieren. Das Feixen des malträtierten Kindes, ein groteskes
Vexierbild, in das Märtyrertum und Subversion
der Menschenkreatur gleichermaßen eingeflossen sind, ist ganz
allein Helnweins Erfindung. Sie offenbart sich in den vielen Metamorphosen
des Phantasmas vom versehrten Körper als obsessives Grundmuster
seiner Bildwelt und aktionistischen Darstellungen, als Metapher einer
im Innersten des Menschen vorhandenen Unverletzlichkeit und Unbesiegbarkeit.
Peter Gorsen
Kunstwissenschaftler, Wien
Helnweins Bilder schockieren - Sei
es durch die drastische Darstellung des herrschenden und beherrschten
Menschen, durch die Demontage herkömmlicher
und gefälliger Bildwelten. Oder liegt die Ursache für die
schockhafte Reaktion nicht im Betrachter selbst?
Helnwein ist ein überaus politischer Künstler, nicht durch
große Reden sondern allein durch die Aussage seiner Kunst.
Deshalb ist seine Arbeit wichtig, gerade in einer Zeit, in der sich
Künstler oftmals nur noch auf die Spaß-Kultur beschränken.
Immer wieder sind es Kinder, die als Opfer gesichtslos, taub und
blind, auf der anderen Seite als Hoffnung stehen und so in aktuellen
und älteren Werken polarisieren. Helnwein provoziert, aber bewegt
zugleich.
Einer, der viel zu sagen hat, indem er es nicht sagt."
Antje Vollmer
Vize-Präsidentin des deutschen Bundestages
in ihrer Eröffnungsrede zur Helnwein Ausstellung "Beautiful
Children"
im Ludwig Museum Schloss Oberhausen, 2005
"In memory of the children
of Europe who have to die of cold and hunger this Xmas“, schreibt
der nach London emigrierte österreichische
Maler Oskar Kokoschka im Winter 1945 auf den Entwurf zu einem Plakat.
Auf eigene Kosten lässt er 5000 Stück drucken und in U-Bahn-Stationen
affichieren.
Im Spätherbst 1988 montiert der ins Rheinland emigrierte österreichische
Maler Gottfried Helnwein entlang einer 100 Meter langen Wand zwischen
Kölner Dom und Museum Ludwig eine Reihe von vier Meter hohen
Fotodrucken mit Kindergesichtern. Er nennt die Arbeit „Selektion
(Neunter November Nacht)“. Es ist ein Werk von monströser
Aussage und schmerzhafter Wirkung. Sein Titel ruft den Jahrestag
der sogenannten Reichskristallnacht in Erinnerung, durch ihn gibt
Helnwein den Kinderporträts ihren beinahe überwältigend
erschütternden Effekt.
Während wir mit Gottfried Helnwein seine Ausstellung für
das Lentos Kunstmuseum vorbereiten, recherchiere ich gleichzeitig
für ein anderes Projekt über Kokoschka. Die Geschichte
der Londoner Plakate ist mir neu. Unbeabsichtigt und unerwartet blenden
sich die beiden Künstler-Leben für einen kurzen, berührenden
Moment ineinander. Mit beträchtlichem Einsatz an Gestaltungskraft,
Kommunikationsfähigkeit, organisatorischer Erfahrung, Umsetzungsenergie
und finanziellen Mitteln widmen sich beide Künstler aus gegebenem
Anlass einem Appell: Zur Erinnerung!
Stella Rollig
Direktorin des Lentos Museum of Modern Art Linz,
zur Eröffnung der Helnwein Retrospektive "Face it!",
2006
Helnwein ist der letzte Verbündete der nächsten
Generation, ein geschickter Provokateur, der uns zwingt, dem Erbe
das wir unseren Kindern hinterlassen haben, ins Auge zu sehen. Helnwein
ist unser Chronist, unser Gewissen, das Gegenmittel gegen unser mangelhaftes
Gedächtnis, er weigert sich uns vergessen zu lassen.
Colin Berry
Artweek, California, 2004
Die
Kinderbilder erweisen sich als die eigentlichen Selbstbildnisse
Helnweins.
Peter Pachnike
Ludwig Museum Schloss Oberhausen
Helnweins faszinierendes Oeuvre umfaßt
absolute Gegensätze.
Helnwein ist ein Künstler der kompromißlosen Aussagen:
Das Triviale, etwa der Disneykultur, wechselt ab mit Untergangsvisionen
der Seele, die Göttlichkeit des Kindes kontrastiert mit Horrorbildern
von Kinderschändung. Sein Grundthema aber bleibt die Gewalt,
das physische und seelische Leid, das ein Mensch dem anderen zufügt."
Gregory Fuller
"Endzeitstimmung - düstere Bilder in Goldener Zeit",
DuMont, Buchverlag, Köln, 1994
Wie Laokoon
schreien diese wie aus Wachs gemeißelten, „schönen“ Kinder
(Helnweins) nicht mehr. Sie ertragen etwas, das nicht benannt wird
und doch sichtbar wird. Sie kommunizieren in ihrer Intimität
eine unauslotbare Abgründigkeit. Die Irritation des Betrachters
entsteht daraus, diesem Geheimnis nicht auf die Spur kommen zu können.
Die Wunde soll wach gehalten werden, und keiner soll sie heilen dürfen.
Thomas Edlinger
Essay zur Einzelausstellung "Face it!" von
Gottfried Helnwein
Lentos Museum of Modern Art Linz, 2006
Durch das Malen von verletzten
Kindern verursachte Helnwein eine Art Schock, und brachte somit den
'Horror' zurück in die Kunst.
Damit zeigte er offen den Zynismus einer Gesellschaft, die nicht
mehr die Dinge so sieht, wie sie sind, deren Sichtweise aber durch
'Bilder über Dinge' geprägt ist.
Klaus Honnef
Rheinisches Landesmuseum, Bonn, 1997
Man kann nicht unberührt
sein von diesen wunderbaren Kinderbildern, die alle etwas unglaublich
Zerbrechliches haben. Ich weiß,
dass Margot Käßmann, die Bischhöfin die neulich den
Kirchentag eröffnet hat, genau dieses gemeint hat, als sie sagte,
wenn sie das Motto des Kirchentages „wenn dein Kind dich morgen
fragen wird“ bebildern würde, dann würde sie das
mit den Bildern von Gottfried Helnwein tun. Weil man hier am meisten
Mitgefühl für die bedrohte Zukunft dieser zarten Geschöpfe
erfährt.
Antje Vollmer
Vize-Präsidentin des deutschen Bundestages
in ihrer Eröffnungsrede zur Helnwein Ausstellung "Beautiful
Children"
im Ludwig Museum Schloss Oberhausen, 2005
In einer bewegenden
Ausstellung im Wilhelm Busch Museum in Hannover waren Bilder des Österreichischen
Künstlers Gottfried
Helnwein zu sehen. Eines seiner Blder zeigte ein Mädchen mit
frechem Gesicht und Blindenband um den Arm, das die Zunge herausstreckt.
Erst habe ich gelächelt. Wer den Blick länger verharren
lässt, sieht, dass dem Mädchen Blut zwischen den Beinen
herunterläuft. Es wurde ganz offensichtlich missbraucht, ihm
wurde Gewalt angetan.... Ja, Kinder sind verletzbar. Kindheit kann
grausam sein, wenn Kinder ausgeliefert sind. Ich denke an sexuellen
Missbrauch, eine unglaublich Form von Folter an Menschen, die lebenslang
an dem Trauma leiden werden. Ich denke an Kindersoldaten in Togo,
im Kongo, im Sudan. Zerstörte Leben, brutal geopfert für
idiotische Machtkämpfe, in denen Zerstörung das oberste
Gebot ist, in denen es keine Ziele mehr gibt. Ich denke an Kinder
in Indien, die schuften schon mit fünf Jahren um ein paar Münzen
zu verdienen, damit ihre Familie überleben kann. Ich denke an
die 12-jährigen Judith Wischnajatskaja, die im Juli 1942 in
ihrem letzten Brief schrieb: “Lieber Vater! Vor dem Tod nehme
ich Abschied von Dir. Wir möchten so gerne leben, doch man lässt
uns nicht, wir werden umkommen. Ich habe solche Angst vor diesem
Tod, denn die kleinen Kinder werden lebendig in die Grube geworfen.
Dr. Margot Käßmann
Landesbischöfin der evangelisch-lutherischen
Kirche Deutschlands
In der Eröffnungspredigt des 30. Deutschen Evangelischen Kirchentages,
2005
Das Mädchen krachte durch mein Browser-Fenster und der Text,
an dem ich gerade arbeitete, begann auf meinem Monitor zu zittern.
Dieses Bild hatte einen Cybersprung zu mir geschafft: Von einer Londoner
Galerie bis nach Israel. Zwei Jahre lang war ich in die Arbeit an
meinem Buch "Und die Ratte lacht" vertieft gewesen, dessen
Kern die Erinnerung an den Holocaust und ihre Überlieferung
durch die Generationen bis 2099 ist. Meine Protagonistin war ein
kleines Mädchen, das in diesen dunklen Zeiten in einer Kartoffelgrube
versteckt wurde, schwere Misshandlungen erlitt und überlebte.
Und jetzt erschien dieses Mädchen plötzlich vor mir. Eine
klare Vision, die auf mysteriöse Art und Weise meine eigenen,
kleinen Worte ergänzte. Das verschlossene, reine Gesicht - betend
oder verzweifelnd - und ein Hauch einer Träne, kaum sichtbar,
im Winkel ihres Auges. Dieses Mädchen mit geschlossenen Augen,
dessen Erinnerungen in den Gräben ihres Gehirns geistern, platzte
auf unerklärliche Weise in mein Leben. Und heftiges Mausklicken
brachte mich schließlich zum Namen jenes Mannes, der mein Grubenmädchen
gemalt hatte – Gottfried Helnwein.
Nava Semel
israel
DIE WUNDEN DER ERINNERUNG
März 2006
Das Bild des Menschen in der Leidensnot,
des unschuldig Verfolgten und Gequälten, das aus der Kunstgeschichte
in zahllosen Märtyererszenen
bekannt ist, entsteht immer wieder neu. In den Bildern von Gottfried
Helnwein ist Betroffenheit über Schmerz und Ausweglosigkeit
in der Situation des Kindes dargestellt. Das Kind ist die Gestalt
des Unterlegenen, Abhängigen, Ausgelieferten und Ausgenützten.
Unter dem Druck einer auf Anpassung drängenden Erwachsenenwelt
werden ihm tiefe Verletzungen eingeprägt, entstellende Traumata.
Die Bandagen bei Helnwein oder schon zuvor bei den Wiener Aktionisten
(Schwarzkoglers Bandagenaktionen) verweisen sowohl auf die Entstellung
des Körpers wie auf das Verborgene dieser Verletzungen. Sie üben
auf dem Hintergrund einer Tabuisierung von Verwundung, Behindertenexistenz
und Tod eine starke Wirkung aus und setzen heftige Reaktionen frei.
Herbert Muck
Philosoph, Architekt und Theologe
Kunstwerke und religiöse Vorstellungen des 20. Jahrhunderts
Helnwein bricht in seinen Bildern nicht nur mit der idyllischen
Vorstellung des vom Leben unberührten Kindes, sondern öffnet
mit ihnen auch den Blick zurück auf eine ganz andere Tradition
der Darstellung des Kindes in der Kunstgeschichte, in der Erlebnis-
und Leidensfähigkeit in beglückenden wie erschreckenden
Bildern ausgedrückt worden sind. Auch seine schockierenden Bilder,
die uns das malträtierte Kind zeigen, haben hier ihre Traditionen,
die von den bestialischen Darstellungen des Bethlehemitischen Kindermordes
am Kreuzgangportal von Notre Dame in Paris über Giottos Fresko
in der Arenakapelle in Padua bis hin zu Picassos toten Kindern in „Guernica“ und „Leichenhaus“ reichen.
Diese Bildtradition stellt bis zu Helnweins Bildern das Kind als
von der ganzen Last des Lebens und der Bedrohung durch den Tod betroffen
dar.
Peter Pachnike und Gisela Vetter-Liebenow
Ludwig Museum Schloss Oberhausen und Wilhelm Busch Museum Hannover
Essay zur Ausstellung "Beautiful Children"
März 2005
Von
jeher hat die Verwundbarkeit von Kindern im Mittelpunkt von Helnweins
Schaffen gestanden. In seinem neuen, 2003 begonnenen Zyklus kommt
die digitale Fotografie zu ihrem Recht, die den Aufnahmen liegender
uniformierter Mädchen eine neue Qualität der Kälte
verleiht. Weiß geschminkt, eine Träne im Augenwinkel und
stieren Blicks starren diese Protagonistinnen eines zeitgemäßen
Schlafs ins Nichts, und wie selten gelingt Helnwein dabei der Spagat
zwischen Intimität und Überwältigung. Helnweins Körperbilder
haben immer Unterwerfung und Eigensinnigkeit miteinander verbinden
können, ganz autonom aber sind in seinem Werk nur die Comicfiguren
- als Angehörige einer anderen Welt. Die Kinder aber sollen
für ihn etwas Größeres sein.
Frankfurter
Allgemeine Zeitung
Andreas Platthaus, 2005
Was sich nicht in Worten ausdrücken
läßt, drängt
in Bildern zutage, die zu gestalten die säkularisierte Erwachsenengesellschaft
der Neuzeit dem Künstler überlassen hat, der dadurch eine
definierte soziale Aufgabe erhält. Das Kind dagegen, in diesem
Sinne asozial, genügt sich selbst, seine Bilder muß es
sich nicht erst aneignen; sie gehören ihm schon.
Peter Zawrel
Direktor des Niederösterreichischen Landesmuseums
anlässlich der Installation "Kindskopf" von Gottfried
Helnwein, 1991
Die Provokationen des Künstlers sind subversiv
und klammheimlich. Sie packen den entsetzten Betrachter eben da an,
wo die antrainierten Verdrängungsmechanismen sonst so gut funktionieren.
Das wird am deutlichsten bei Helnweins Kinderbildern. Zarte pastellfarbene
Zeichnungen, die zum Horrortrip für den Betrachter werden. Die
sanften Kindergesichter sind durch Verletzungen furchtbar entstellt.
Hasenscharten, Narben, Wundmale, Klammern, Kanülen, Bandagen.
Der Anblick ist kaum auszuhalten. Aber was bedeutet das schon gegen
die täglich von vielen tausend Kindern erlittenen Schmerzen,
Qualen und Folterungen? Ein künstlerischer Aufschrei gegen die
Schmerzen der Welt.
Helnwein denunziert nicht die Kinder - das häufigste Missverständnis,
mit dem man sich gegen seine Kunst wehrt - sondern unsere Neigung,
vor dem Leiden die Augen zu verschliessen. Der Künstler entlarvt
das Bedürfnis nach heiler Welt (oft nur eine Form von Abgestumpftheit)
als unmoralisch, als Angst vor der Realität . Ein Moralist mit
sadistischen Mitteln.
Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt
Erika Brenken, 13. Februar 1983
Das menschliche
Gesicht, besonders das kindliche, ist für Helnwein
von größter Faszination und mithin eines seiner zentralen
Bildsujets. Das hier vorgestellte monumentalisierte Gesicht eines
kleinen Mädchens steht gleichsam stellvertretend für alle
Kinder. Kinder sind in unserer profit- und leistungsorientierten
Erwachsenengesellschaft beinahe als Randgruppe zu bezeichnen, fällt
doch die Beachtung ihrer Interessen vergleichsweise bescheiden aus.
Vor diesem Hintergrund ist die extreme Vergrößerung des
Gesichtes in Verbindung mit der hyperrealistischen Auffassung als
eine beklemmende Irritation unserer gewohnten Wahrnehmungserfahrung
zu verstehen.
Evgenija Petrova
Direktor des Staatlichen Russichen Museums, Sankt Petersburg
über die installation des Bildes "Kindskopf"
anlässlich der Retrospektive von Gottfried Helnwein, 1997
Menschlichkeit im Riesenmass.
Peter Ludwig
Kunstsammler und Museumsgründer
über das Bild "Kindskopf" von Gottfried Helnwein,
welches er dem Russischen Museum in Sankt Petersburg stiftete
Kölner Stadt Anzeiger, 1996
Das
Foto eines Kriegsberichterstatters zeigt ein von Granatsplittern
verstümmeltes Kind auf einem lazarettschiff in Decany. Die fotografische
Abbildung der Wirklichkeit beläßt diese stets an ihrem
Ort. Die Distanz zwischen dem Betrachter und dem Fotografierten bleibt
unüberbrückbar. Die amerikanischen Künstler Aziz+Cucher
arbeiten mit digitaler Fotografie. Sie vertreten eine neue, im Medienzeitalter
groß gewordene Künstlergeneration, die Simulation als
die einzige Warheit anerkennt, auf die wir uns verlassen können.
Helnwein dagegen gibt uns nichts in die Hand, auf das wir uns verlassen
können. Er zieht uns den Boden unter den Füßen weg,
sowohl jenen der Distanz zum Objekt als auch jenen der Vergewisserung
des Subjekts.
Peter Zawrel
Direktor des Niederösterreichischen Landesmuseums
GEGEN DIE HARMLOSIGKEIT IN DER KUNST, 1999
Nicht einmal vor den Kindern
wurde haltgemacht, auch sie fielen der Vernichtung zum Opfer, Es
war die bestechende Idee von Gottfried Heinwein, die Konsequenzen
dieser »Zeit ohne Gnade« so
unkonventionell darzustellen. Er verwendete keine Fotos von Leichenbergen;
Kinderbilder zwingen den Betrachter, stehen zu bleiben und sich diesem
Gedanken zu stellen. Die Wut der Neonazis, mit der sie auf diese
Bilder reagiert haben, ist verständlich, es ist dieselbe Wut,
mit der sie seit Jahren gegen das Tagebuch der Anne Frank kämpfen,
denn die Ermordung von Kindern wird in jedem Menschen - mag er ideologisch
noch so irre geleitet sein - Abscheu und Widerspruch erwecken. Aber
der Vernichtungswille hat überlebt, er tobte sich an den Bildern
aus, indem man versuchte, sie durch Schnitte zu zerstören.
»Menschen, bitte bleibt alle stehen, schaut Euch diese Kindergesichter
an und multipliziert ihre Zahl mit einigen Hunderttausend. Dann werdet
ihr das Ausmaß des Holocaust, der größten Tragödie
in der Geschichte der Menschheit, erkennen oder erahnen!«
Simon Wiesenthal
zur Installation "Neunter November Nacht" von
Gottfried Helnwein
Museum Ludwig Köln, 1988
Das auratische Gesicht eines Kindes,
sechs Meter hoch, vier Meter breit, im Triumphbogen einer mittelalterlichen
Kirche hängend,
an Pfeilern und Wänden umgeben von dutzenden Leinwänden
im genormten Format von zweihundert mal hundertvierzig Zentimetern,
deren Köpfe und Fabelwesen sich erst bei näherem Hinsehen
leicht als Kinderzeichnungen zu erkennen geben - einmal mehr irritiert
Helnwein eingewöhnte Wahrnehmungsstrukturen in mehrfacher Hinsicht,
vor allem aber auch die Erwartungshaltung des Besuchers einer Helnwein-Ausstellung.
Mit unergründlicher Sicherheit hat Helnwein auf die Herausforderung,
in der frühgotischen, vor rund zweihundert Jahren durch Josef
II, aufgehobenen Minoritenkirche in Krems/Stein eine Ausstellung
zu gestalten, mit dem Konzept KINDSKOPF geantwortet. Er benützt
die erstmalige Möglichkeit einer derartigen Präsentation
in seiner Heimat Niederösterreich nicht nur, um seine bisherigen
Arbeiten zum - letztendlich wohl autobiographisch motivierten - Thema
Kind mit einer überraschenden, sehr persönlichen Geste
zusammenzufassen, indem er die eigenen Kinder nicht als Objekte,
sondern als Mitarbeiter miteinbezieht, sondern er reagiert auch mit
dem Bild KINDSKOPF präzise auf den Ort der Ausstellung und seine
tradierte Aura.
Peter Zawrel
Direktor des Niederösterreichischen Landesmuseums
anlässlich der Installation "Kindskopf" von Gottfried
Helnwein, 1991
Der Arroganz,
dem Egozentrismus und der Ignoranz, mit denen Kindern in unserer
Gesellschaft begegnet wird, hält Helnwein
ein Bild vom Kind entgegen, dem die Kehrseite dieser Verhalten völlig
fehlt: keine Kindertümelei, nichts von der fröhlichen Unschuld,
mit der Kinder als Projektion einer ideologischen Verklärung
der eigenen Kindheit in eine als ungenügend empfundene Erwachsenenwirklichkeit,
im Familienalbum wie in der Werbung, maskiert werden.
Peter Zawrel
Direktor des Niederösterreichischen Landesmuseums
anlässlich der Installation "Kindskopf" von Gottfried
Helnwein, 1991
Wenn mir etwas in meinem Leben wirklich gelungen ist, dann ist es
das Leben mit meinen Kindern, meiner Familie. Es ist wahrscheinlich
der einzige Bereich meines Daseins, der stets völlig konfliktfrei
war und ein nie versiegenden Quell von Freude und Glück. Dies
ist der Rachefeldzug für die Fadheid und Erbärmlichkeit
meiner eigenen Kindheit. Ich habe mir schon damals geschworen, dass
ich eines Tages eine Menge Kinder haben würde, die vollkommen
frei sein würden und die selbst entscheiden könnten, ob
sie z.B. zur Schule gehen wollten oder nicht. Mir schwebte einer
Art gesetzlose verschworene Bande vor, mit der ich durch die Lande
ziehen würde. Ungefähr so ist es dann ja auch gekommen.
Wir haben in den verschiedensten Teilen der Welt gelebt, alle meine
Kinder sind Künstler geworden, haben unterschiedliche Staatsbürgerschaften
und obwohl sie nun schon selbst Kinder haben, leben wir immer noch
zusammen wie eine sizilianischen Grossfamilie. Es hat sich übrigens
erwiesen, dass Schlösser für derartige Lebensmodelle äusserst
praktisch sind.
Gottfried Helnwein
im Gespräch mit Marc Fischer und Sven
Michaelsen
Vanity Fair, 2008
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